M. Tullner u.a. (Hrsg.): 1806: Jena, Auerstedt und Magdeburg

Titel
1806: Jena, Auerstedt und die Kapitulation von Magdeburg. Schande oder Chance?


Herausgeber
Tullner, Mathias; Möbius, Sascha
Reihe
Beiträge zur Regional- und Landeskultur Sachsen-Anhalts 46
Anzahl Seiten
206 S.
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jürgen Luh, Stiftung Preussische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg

Das zweihundertjährige Jubiläum der Schlacht von Jena und Auerstedt 2006 ist weitgehend unbemerkt vorübergegangen. Daran dürfte nicht nur die Fußballweltmeisterschaft Schuld gewesen sein, die im Sommer, aber auch schon in den Monaten vorher und auch der Zeit nachher alle Aufmerksamkeit auf sich zog. Es wird ebenso daran gelegen haben, dass an eine Niederlage, zudem an eine von solch katastrophalem Ausmaß, wie die preußische Armee sie hinnehmen musste, nur ungern erinnert wird.

Große Festveranstaltungen oder Ausstellungen widmet man lieber erfreulicheren Dingen wie Krönungsjubiläen oder Geburtstagen berühmter Persönlichkeiten. Selbst wenn die preußische Armee 1806 die französische besiegt hätte, wäre wohl keine große Gedenkveranstaltung zustande gekommen. Denn an die militärische Vergangenheit erinnert sich man sich in Deutschland überhaupt nicht gern. Im Oktober 2006 blieb deshalb die von Mathias Tullner und Sascha Möbius verantwortete Tagung zu den kriegerischen Ereignissen vor zweihundert Jahren eine Ausnahme.

Tullner und Möbius wollten zwei Fragenkomplexe „aus regional- sowie universalhistorischer Perspektive“ untersuchen: 1. „War die Kapitulation Magdeburgs das Resultat der mangelnden Tatkraft des alterschwachen Gouverneurs von Kleist?“ und 2. „Standen sich bei Jena und Auerstedt der dynamische Bürgersoldat der französischen Armeen, erfahren und taktisch flexibel, und der gepresste Leibeigene der königlich-preußischen Armee gegenüber, der streng kontrolliert in starrer Linienformation kämpfen musste?“ Es ging ihnen, auf den Punkt gebracht, darum, „ob bei Jena und Auerstedt das 18. Jahrhundert dem 19. unterlag, die Moderne über die Vormoderne, das bürgerliche Zeitalter über das monarchische siegte“, wie sie in der Einleitung des Tagungsbandes schreiben (S. 5).

In elf Beiträgen versuchen neun Autoren und eine Autorin diese Fragen zu beantworten, die nach drei Themenkomplexen gegliedert sind. Der erste Themenschwerpunkt setzt sich mit der Frage nach der Überlegenheit von „Bürgersoldat oder Leibeigener“ auseinander. Zwei Beiträge von Olaf Jessen markieren Anfang und Ende dieses Teils. Jessen schreibt zunächst unter dem Titel „Ohne Jena kein Verdun. Feldzug und Schlacht 1806“ über den „Nutzen einer neuen Operationsgeschichte“ (S. 15-43). Dem „operationsgeschichtlichen Blick auf das Epochenjahr 1806 soll [...] das erste neue Glas im vorliegenden Aufsatz, das zweite hoffentlich in der Untersuchung über das altpreußische Heer in die alte Fassung eingepasst werden“ (S. 19). Das „Glas“ ist die Betrachtung der Bewegungen der verschiedenen Armeen, Armeekorps und Einheiten im Vorfeld und während der Doppelschlacht verbunden mit Überlegungen zur Gedankenwelt einiger beteiligter Heerführer. Das Ergebnis: „Das Charakteristische der französischen Operationsführung war das Stetige, Gleichbleibende, Eindeutige. Das Charakteristische der preußischen Operationsführung war das Unstete, Wechselhafte, Schwankende. [...] Wer will, kann die Operationsgeschichte von 1806 auf den Nenner einer Formel kürzen: Selbstvertrauen siegte über Verunsicherung.“ (S. 41)

Warum? „Eingeschlafen auf den Lorbeeren Friedrichs des Großen?“ (S. 110-129) Diese Frage stellt Jessen in seinem zweiten Artikel zum Zustand des altpreußischen Heeres 1786 bis 1806. Er beantwortet sie am Beispiel des Generals Ernst von Rüchel, über den er auch eine Biographie geschrieben hat.1 Denn dieser habe „Stärken und Schwächen des altpreußischen Heeres im Zeitalter der Vernunft [...] so prägnant verkörpert“ wie kein anderer Offizier (S. 113). Rüchel, so Jessens Fazit, habe innerhalb der preußischen Armee „für Stillstand und Bewegung, für Bewahrung und Anpassung, für Lähmung und Reform“ gesorgt. Da es ein solches Für und Wider und eine derartige Unentschiedenheit gab, sei das Heer 1806 nicht an seiner „Erstarrung“ zerbrochen, sondern „dem Vernichtungswillen Napoleons“ unterlegen (S. 125).

Jessens Artikel rahmen Beiträge von Bernhard Kroener, Jörg Muth und Martin Winter. Kroener schreibt über „Frankreich und Preußen 1806. Zwei Staaten und ihre Heere im Vergleich“ (S. 44-60). Er nähert sich dem Thema aus der Perspektive der Erinnerung, der Strukturen und der Persönlichkeitswirkung, verzichtet bei seinen Ausführungen aber leider auf Nachweise. Muth behandelt „Die Desertionsproblematik und die Regimenter Friedrichs des Großen“ (S. 61-91). Es ist eine Zusammenfassung seines Buches über die „Flucht aus dem militärischen Alltag“.2 Winter berichtet unter dem Titel „Kontinuität oder Neuanfang? Die Umsetzung der ‚Allgemeinen Wehrpflicht zwischen Reform und Restauration“ Interessantes und Wissenswertes über das Fortleben des preußischen Kantonsystems (S. 92-109): „Festzuhalten bleibt, dass in der Wiederaufbauphase zwischen 1808 und 1813 die Rekrutierungslast genau auf die Bevölkerungsschichten fiel, die schon während des 18. Jahrhunderts die preußischen Soldaten gestellt hatten.“ (S. 101)

Der Mittelteil des Tagungsbandes umfasst drei Artikel zur Übergabe Magdeburgs: Mathias Tullner hält knapp alles Wesentliche über „Die preußische Niederlage bei Jena und Auerstedt (Hassenhausen) und die Kapitulation von Magdeburg“ fest (S. 130-139). Wilfried Lübeck beantwortet die Frage „8. November 1806 – die Kapitulation von Magdeburg, die feige Tat des Gouverneurs v. Kleist?“ (S. 140-152) mit einem Ja und einem Nein. Ja, weil er die Festung zur Überraschung der anderen anwesenden Generale übergab (S. 148), nein, weil das völlige Fehlverhalten König Friedrich Wilhelms III. „eine Ursache der Kapitulation“ gewesen sei (S. 141) und die Menschlichkeit die kampflose Übergabe geboten habe (S. 150). Bernhard Mai vergleicht „Die Belagerungen von Magdeburg, Kolberg und Breslau 1806/07“ (S. 153-172).

Die letzten drei Beiträge des Bandes sind verschiedenen Themen gewidmet, die mit den eigentlichen Fragestellungen der Tagung wenige Berührungspunkte haben. Eva Labouvie skizziert das Leben von „Marschall Michael Ney“ (S. 173-187), Dieter Elsner stellt die Magdeburger Freimaurerloge „Ferdinand zur Glückseligkeit“ in der Zeit der französischen Besetzung der Stadt vor (S. 188-198) und Stephan Huck präsentiert „‘Die Geschichte der Freiheitskriege‘ als modernes Selbstlernmedium“ (S. 199-204), ein Projekt des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes der Bundeswehr. Es handelt sich um die Kombination eines klassischen Printmediums mit einer Begleit-CD-ROM. Auf zeitgemäße Art sollen dadurch in der Offiziersausbildung „Hilfen für die historische Bildung“ gegeben werden.

Sind die von Tullner und Möbius gestellten, übergeordneten Fragen der Tagung durch die Beiträge der Autoren beantwortet worden? Mal mehr, mal weniger, mal gar nicht, weil sich nicht alle immer von den Fragestellungen leiten ließen. Das ist leider die Crux vieler Tagungen und auch hier erneut festzustellen.

Anmerkungen:
1 Jessen, Olaf, "Preußens Napoleon?" Ernst von Rüchel. 1754-1823. Krieg im Lichte der Vernunft, Paderborn 2006.
2 Muth, Jörg, Flucht aus dem militärischen Alltag – Ursachen und individuelle Ausprägung der Desertion in der Armee Friedrichs des Großen. Mit besonderer Berücksichtigung der Infanterie-Regimenter der Potsdamer Garnison, Freiburg 2003.

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